# Virtuelle Forschungsumgebung > [!tip] Referenz > Preprint von Fabian Pittroff und Estrid Sørensen vom 2024-05-01. Virtuelle Forschungsumgebungen (VFU) sind soziomaterielle Trägerinnen von Wissenschaftskulturen und prägen Forschungspraktiken und Epistemologien. Die Entwicklung genuin geisteswissenschaftlicher VFUs ist deshalb auch ein wissenschaftspolitisches Vorhaben, das an der Beantwortung der Frage mitwirkt, was wissenschaftliche Wissensproduktion ist und sein soll. Wir schlagen vor, VFUs geisteswissenschaftlich zurückzufordern (_reclaim_) und sie sich als Infrastrukturen besondere Art neu anzueignen. Zu diesem Zweck müssten sie dann als doppelt _virtuelle_ Virtuelle Forschungsumgebungen verstanden und praktiziert werden, die nicht nur technische Instrumente versammeln, sondern Gelegenheiten zur Reflexion der Forschung schaffen. VFUs können so auf mindestens zwei Weisen zentrale Infrastrukturen der virtuellen Universität sein: Sie sind virtuell, insofern sie soziotechnisch durch Praktiken konstituiert werden (Mol 2017), und sie sind virtuell, insofern sie forschende Spekulationen zulassen und das bloß Mögliche ausweiten (Deleuze 1989). Einer Institution dagegen, die über keine entsprechende »Kultur der Diskussion der eigenen technologischen Entscheidungen« verfügt, fehlen »Imaginationen \[…] einer Infrastruktur, die über die Angebote der großen Technologie-Unternehmen hinausgehen« (TITiPI 2023: 30, unsere Übersetzung). Deskriptiv gesprochen, erscheinen VFUs als gewachsene und gebaute Infrastrukturen, die entstehen und genutzt werden, wenn Personen Forschung tun und mit anderen forschenden Personen interagieren. Während solche Infrastrukturen in natur- und technikwissenschaftlichen Disziplinen entwickelt wurden und aus diesem Grund dort als natürlich erscheinen, treten sie in geisteswissenschaftlichen Fächern als ungewöhnliche Irritationen auf (Star/Ruhleder 2017). VFUs stellen sich technisch als mehr oder weniger integrierte Sets von Software-Produkten dar und adressieren praktisch unterschiedliche Anwendungsbereiche wie den Umgang mit Forschungsdaten oder die Koordination von Zusammenarbeit in Projekten (Carusi/Reimer 2010: 13; Bender 2016: 103–108; Pfeiffer et. al. 2020: 431–433). Gerade die Zuständigkeit in diesen Anwendungsbereichen können in den Geisteswissenschaften Störungen erzeugen, etwa weil Forscher:innen ihre Materialien gar nicht erst als Forschungsdaten verstehen. Eben dieses Irritationspotenzial birgt dann aber auch Chancen, geisteswissenschaftliche VFUs als Handlungsfeld zu nutzen, um die Reflexivität geisteswissenschaftlicher Forschung auf neue Bereiche auszuweiten. Ungefähr seit den 2010er Jahren gibt es gezielte Anstrengungen, mehr oder weniger spezialisierte VFUs für die Geisteswissenschaften zu entwickeln (Blanke et al. 2010; Carusi/Reimer 2010; Neuroth et al. 2011; Scholz/Goerz 2012; Pfeiffer et al. 2020), während umfassende Nutzungsstudien die Ausnahme sind (Bender 2016: 128). Plausibel scheint jedenfalls, dass VFUs nicht ohne Weiteres von einer Disziplin in eine andere übertragen werden können, sondern an lokale Arbeitsweisen angepasst werden müssen (Suchman 2002; Vertesi 2014). Unser Beitrag beschränkt sich deshalb nicht auf Nutzungsfreundlichkeit oder eine triviale Passung zwischen Techniken und Praktiken. Anstatt Modelle aus anderen Disziplinen zu übernehmen, muss sich die Analyse und Gestaltung damit auseinandersetzten, was eine geisteswissenschaftliche VFU ausmacht und ausmachen soll. Entsprechend fällt auch unsere Untersuchung geisteswissenschaftlicher VFU reflexiv aus: Erstens berichten wir von der gegenwärtigen Gestalt einer VFU in einem geisteswissenschaftlichen Verbundprojekt, welches wir beforschen und mitgestalten. Zweitens skizzieren wir Verfahren der partizipativen und spekulativen Gestaltung einer zukünftigen VFU. In der Tradition der partizipativen Gestaltungsforschung (Simonsen/Robertson 2013) gründen unsere Interpretationen und Interventionen auf einer teilnehmenden Untersuchung im Rahmen einer Praxeographie an der erwähnten universitären Forschungseinrichtung, die rund 50 Personen in 15 Teilprojekten unter einem gemeinsamen Programm versammelt. ## Gestalt geisteswissenschaftlicher VFU Das erste Ziel unserer Forschung ist, geisteswissenschaftliche Forschungspraktiken mit Blick auf die Weiterentwicklung der VFU zu sammeln. Zu diesem Zweck haben wir ein Tableau geisteswissenschaftlicher _Anwendungen_ _zusammengestellt (Abb. 1)_. Unter Anwendungen verstehen wir keine Computer-Programme, sondern Tätigkeitsfelder, die empirisch beobachtete Praktiken zu einer Gruppe zusammenfassen. Anwendungen beschreiben damit Verfahren, die in unserem Feld gegenwärtig mit unterschiedlichen Mitteln und Techniken durchgeführt werden, aber immer auch anders adressiert werden könnten. Auf der Grundlage unserer Beobachtungen unterscheiden wir zwei Gruppen von Anwendungen, wie sie von einer geisteswissenschaftlichen VFU ermöglicht werden: _Projektanwendungen_ meinen Tätigkeiten der Verständigung, Koordination und Information unter forschenden Personen und im Hinblick auf ein gemeinsames Projekt. _Datenanwendungen_ betreffen demgegenüber jeden Umgang mit Forschungsdaten, also Forschungstätigkeiten im engeren Sinne. Das Erzeugen, Sammeln oder Verwalten von Forschungsdaten gehört in den Geisteswissenschaften zum Alltag, auch wenn nicht alle geisteswissenschaftlichen Forscher:innen ihre Tätigkeiten unter Verwendung des Datenbegriffs beschreiben. So wie die technischen Infrastrukturen des geisteswissenschaftlichen Alltags oft unsichtbar bleiben, so wenig präsent kann der geisteswissenschaftliche Umgang mit Forschungsdaten sein. In dieser Situation haben wir uns dafür entschieden, die Materialien geisteswissenschaftlicher Forschung als Daten zu interpretieren. In diesem Sinne lassen sich beispielsweise die Ergebnisse von Verfahren der Literaturverwaltung, die Anfertigung von Notizen oder von Techniken der Annotation als Daten verstehen. Das ermöglicht es uns, alltägliche Forschungspraktiken im Feld mit extern formulierten Anforderungen an den Umgang mit Daten zu vergleichen. Dieses Vorgehen eröffnet die Möglichkeit, geisteswissenschaftliche Begriffe von Forschungsdaten zu multiplizieren und die naturwissenschaftliche Definitionsmacht herauszufordern. Wir untersuchen Daten vor dem Hintergrund einer praxeographischen Methodologie und deshalb immer in Relation zu Datenpraktiken (Mol 2017; Sørensen/Schank 2017). So verstehen wir Daten als aufbereitetes und rekontextualisiertes Material, das in einem geeigneten Medium fixiert wird, um eine lesbare Form anzunehmen, die selbst wieder als Material für die weitere Arbeit dient, ohne ihren indexikalen Charakter zu verlieren (Sørensen 2025: 35; Rheinberger 2021: 29–35). Um Forschungsdaten zu gewinnen, werden in unserem Feld heterogene Anwendungen einer VFU mobilisiert. Wir konnten Datenpraktiken dokumentieren, die der Aufzeichnung sozialer oder gedanklicher Abläufe dienen, die Annotation von Materialien ermöglichen, sowie Verfahren der Analyse und Synthese unterstützen. Insgesamt haben wir die beobachteten Forschungspraktiken zu einem Tableau von Anwendungen einer geisteswissenschaftlichen VFU versammelt (Abb. 1). ![[anwendungen.png]] *Abb. 1: Tableau von Anwendungen geisteswissenschaftlicher VFU.* ## Gestaltung geisteswissenschaftlicher VFU Vor dem Hintergrund unserer praxeographischen Untersuchung stellt sich die Frage, wie eine VFU aussehen kann, die nicht nur irgendwie zu den vorgefundenen Anwendungen passt, sondern darüber hinausgeht, insofern sie Reflexivität ausweitet, Alternativen ins Spiel bringt und Virtualität steigert. Sowohl die Phänomene als auch die Produkte geisteswissenschaftlichen Interesses bewegen sich im Medium des Sinns, sind also praktizierte oder materialisierte Resultate von Bewusstsein oder Kommunikation (vgl. Pittroff 2025; Luhmann 1971). Entsprechend sollte sich eine geisteswissenschaftliche VFU generell in die Produktion, Fixierung und Reflexion von Sinnformen einmischen. Als Teil des untersuchten Verbundprojekts waren wir eingeladen, eine VFU zu entwickeln, die die Reflexivität geisteswissenschaftlicher Forschung in dieser Weise erweitert. Vor diesem Hintergrund haben wir uns dafür entschieden, die aktuell praktizierte VFU nicht nur zu beobachten und zu beschreiben, sondern reflexiv zu gestalten. Diese Kombination von Forschung und Gestaltung zeitigt im besten Fall Synergieeffekte: Zum einen profitiert eine experimentelle Technikentwicklung von einer situierten Wissenschaftsforschung, zum anderen dient ein Entwicklungsprojekt der Forschung als Medium, weil praktische Gestaltung und reflexive Tests immer auch Rückschlüsse auf die aktuelle und virtuelle Gestalt geisteswissenschaftlicher Datenpraktiken und ihrer VFU erlauben. Für die Gestaltung der VFU haben wir uns einiger Verfahren des spekulativen Designs bedient (Dunne/Raby 2013). In Kombination mit Formaten der Ko-Laboration (Niewöhner 2014) lassen sich so Probleme, Lösungen und ihre Verhältnisse überprüfen und reformulieren, ohne von den scheinbaren Begrenzungen der alltäglichen Arbeit limitiert zu sein. Dabei können praktische Problemlagen reflektiert und alternative Lösungswege erkundet werden. Im Laufe unserer Untersuchung haben wir eine Reihe spekulativer Formate mitgestaltet und teilnehmend beobachtet, um Erkenntnisse für die Weiterentwicklung einer VFU zu erhalten. Wir haben den Aufbau einer kollaborativen Publikationsinfrastruktur versucht (Pittroff 2024b), die Prototypisierung einer Startseite für VFU getestet und Fabeln über Infrastrukturen – _Infrabels_ (TITiPI 2022) – geschrieben und diskutiert (Pittroff 2024a). An dieser Stelle können wir kurz exemplarisch von einem Workshop berichten, in dem geisteswissenschaftlicher Forscher:innen unseres Verbundprojekts spekulative Komponenten einer VFU erarbeitet haben. Die gemeinsam erdachten VFU-Komponenten sind als Ausdruck praktischer Problemlagen des geisteswissenschaftlichen Alltags interessant. Die Teilnehmenden reflektierten beispielsweise die Vervielfachung von Techniken der Kommunikation, die erlernt, ausgewählt und im Blick behalten werden müssen, sowie ihre Schwierigkeiten, Materialien und Forschungsdaten zu finden, zu ordnen und sinnvoll zu verbinden. Durchgehend ausgeprägt war der Wunsch nach reibungslosen und automatischen Verfahren. Die ersonnenen Komponenten wurden dabei nicht als technische Objekte vorgestellt, sondern als organische, ökologische oder personale Agent:innen und Assoziationen imaginiert. Mit Blick auf die Gestaltung einer zukünftigen VFU verdeutlichen diese gemeinsamen Spekulationen zunächst den Druck, der auf den besprochenen Anwendungen der Sammlung, Analyse und Verständigung lastet. Sie verweisen außerdem auf Hoffnungen in eine intelligente Automatisierung solcher Anwendungen, was gegenwärtig von gewaltigen Investitionen in Technologien der künstlichen Intelligenz begleitetet wird. Dass die spekulativen Maschinen als intelligente Wesen oder gar Ökologien konzipiert werden, lesen wir schließlich als Bedürfnis nach Inspiration und Serendipität – es ist Ausdruck des Wunsches, durch Forschung etwas zu finden, ohne zu wissen, was man sucht (vgl. auch Serres 1994: 17, 35; Rheinberger 2006: 27–34). Eine reflexive, wirklich virtuelle VFU müsste Forschende deshalb mit etablierten Anwendungen inspirieren und – über die Entwicklung neuer Anwendungen – die geisteswissenschaftliche Wissensproduktion zum Gegenstand der Reflexion in der virtuellen Universität machen. ## Literatur Bender, Michael (2016): Forschungsumgebungen in den Digital Humanities. Nutzerbedarf, Wissenstransfer, Textualität, Berlin/Boston: De Gruyter. Blanke, Tobias et al. 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