# Text, plain
> [!tip] Referenz
> Von Fabian Pittroff fĂŒr das [Vokabular des Virtuellen](https://doi.org/10.14361/9783839472071-050)
Anordnung und Umordnung von Text gehören zum Alltag wissenschaftlichen Arbeitens. Sie ist niemals nur neutrale Ergebnissicherung, sondern â besonders in den Geisteswissenschaften â ein Verfahren der Forschung, das »so zugerichtet ist, dass einem etwas unterlaufen, dass sich Neues, nicht Vorwegnehmbares ereignen kann« (Rheinberger 2021: 17). Wer mit Text arbeitet, befindet sich in der alltĂ€glichen »Unterwelt der Forschungstechnologien« (ebd.). Diese TĂ€tigkeiten der Aneinanderreihung von Zeichen zu Texten geschehen meist in Zusammenarbeit mit Computern. FĂŒr diese sind Texte eine bestimmte Form von Daten. Bestehen diese Daten aus nichts anderem als aus Codes, die Textzeichen reprĂ€sentieren, handelt es sich â im Sinne der Informatik â um *plain Text* (vgl. The Unicode Consortium 2023).[^1]
Das situierte Lexikon des *Vokabular des Virtuellen* ist inhaltlich und infrastrukturell als Experiment angelegt; also als eine Anordnung, in der alte und neue Verbindungen von Handeln und Erleben in kontrollierter Weise manipuliert und dokumentiert werden (Dewey 2001, Rheinberger 2021). Ein entscheidendes Element der infrastrukturellen Seite dieses Versuchs ist der konzeptionelle Vorrang von Plain-Text-Dateien: Der Idee nach soll die gemeinsame Textproduktion möglichst weitgehend ĂŒber einfache Text-Dateien in der Form von *plain Text* ablaufen. Der folgende Artikel berichtet von diesem Experiment ausgehend vom multiplen Ding *plain Text*, das als *Datei*, als *Praxis* und als *virtuelles Objekt* auftritt.
## Text als Datei
*Plain Text* ist ein lose definierter technischer Standard, der eine bestimmte Form von Daten beschreibt. An der OberflĂ€che der Interfaces ist *plain Text* eine Aneinanderreihung menschenlesbarer Zeichen â Buchstaben, Zahlen, Satzzeichen, Emojis und Leerraum. In der Tiefe des Computers ist *plain Text* eine Sequenz von Codes in Form von Zahlengruppen, die â abhĂ€ngig von einem Codesystem â ein bestimmtes Zeichen reprĂ€sentiert. Folgt man etwa dem Standard *Unicode*, entspricht der Code *U+0041* dem Symbol fĂŒr ein groĂes A, der Code *U+0020* einem Leerzeichen und der Code *U+1F64B* dem Emoji *Happy Person Raising One Hand*.
Der Unicode-Standard definiert *plain Text* als »reine Abfolge von Zeichencodes; einfacher, mit Unicode kodierter Text ist also eine Folge von Unicode-Zeichencodes. Im Gegensatz dazu ist *styled* Text, auch *rich* Text genannt, eine Textdarstellung, die aus reinem Text und zusĂ€tzlichen Informationen zur Kennzeichnung der Sprache, SchriftgröĂe, Farbe, Hypertext-Links usw. besteht« (The Unicode Consortium 2023: 18, meine Ăbersetzung, F.P.). Weniger neutral formuliert das Handbuch fĂŒr Programmierer:innen *The Pragmatic Programmer*: »Wir glauben, dass das beste Format fĂŒr die dauerhafte Speicherung von Wissen *plain Text* ist. Mit *plain Text* haben wir die Möglichkeit, Wissen zu manipulieren, sowohl manuell als auch mittels Programmen, mit praktisch jedem uns zur VerfĂŒgung stehenden Werkzeug« (Thomas/Hunt 2020: 74; meine Ăbersetzung, F.P.). Die Formulierung ist gesĂ€ttigt von Werten und Semantiken der Welt der Informatik: Wissen ist wertvoll, aber vor allem eine Frage der Speicherung und Bearbeitung von Daten. Entsprechend nimmt auch der Unicode-Standard keine neutrale Haltung gegenĂŒber *plain Text* ein: »Die Einfachheit des *plain Text* gibt ihm eine natĂŒrliche Rolle als Hauptstrukturelement von *rich Text*. \[âŠ] *Plain Text* ist öffentlich, standardisiert und universell lesbar« (The Unicode Consortium 2023: 19, meine Ăbersetzung, F.P.).
Nicht unbeeinflusst von dieser Semantik ist die Motivation entstanden, die Textdaten des Lexikons als *plain Text* zu sammeln und zu verwalten. Die Eigenschaften von *plain Text* haben zur Folge, dass Daten in dieser Form â aus *technischer* Perspektive â leicht zu bearbeiten sind, weil ihre Verfassung einem öffentlich zugĂ€nglichen Standard folgt. Deshalb sind Plain-Text-Daten nicht an eine bestimmte Software oder ein Betriebssystem gebunden sind, sondern können von einer Vielzahl von Programmen gelesen und verĂ€ndert werden. Es sind diese technischen Eigenschaften, die den Einsatz von *plain Text* rechtfertigen und die Entscheidung begrĂŒnden, die Textinfrastruktur des Lexikons auf Plain-Text-Daten auszurichten. So positiv die technischen Eigenschaften sein mögen, so wenig verbreitet ist doch die Nutzung einfacher Textdateien in den Geisteswissenschaften. Computer sind glĂŒcklich mit dieser Form von Daten. Aber gilt das auch fĂŒr die beteiligten Menschen?
## Text als Praxis
*Plain Text* fĂŒhrt nicht nur eine Existenz als Datei, sondern ist auch eine Praxis der Textarbeit. *Plain Text* ist nicht nur ein Zustand von Daten, sondern erfordert auch eine bestimmte Weise des Umgangs mit Text. Dass *plain Text* keine Formatierungen jenseits des Textes kennt, verĂ€ndert notgedrungen, wie ein Text von seinen Autor:innen bearbeitet wird. FĂŒr viele wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Zwecke ist das Repertoire einfacher Text-Dateien zu beschrĂ€nkt. Was fehlt, sind Möglichkeiten der semantischen Auszeichnung, um bestimmte Textteile wie Ăberschriften, Hervorhebungen oder Anmerkungen als solche auszuweisen.
PopulĂ€re Textverarbeitungsprogramme erfĂŒllen diese Aufgabe mit den Mitteln eines grafischen Interfaces. Nutzer:innen können Textteile durch Tastendruck im Interface auszeichnen und sehen die Auszeichnung am Bildschirm im Stil einer simulierten Druckseite. Diese Art der Auszeichnung geht hĂ€ufig mit der EinschrĂ€nkung einher, dass die so entstehenden Daten nur von jenem Programm gelesen und bearbeiten werden können, das sie erstellt hat. Eine Alternative dazu ist, einen Text *plain* zu belassen, also alle gewĂŒnschten Auszeichnungen zum Teil des Textes zu machen, ohne auf eine Software angewiesen zu sein, die diese Auszeichnungen in ein grafisches Interface ĂŒbersetzt. Die Auszeichnung semantischer Textteile durch die Autor:in geschieht dann durch die EinfĂŒgung bestimmter Zeichen in den Text. Welche Zeichen welche Bedeutung tragen, ist durch eine Auszeichnungssprache beschrieben; durch ein Set maschinenlesbarer Regeln fĂŒr die Markierung von Textteilen. Die vielleicht populĂ€rste Auszeichnungssprache ist die *Hypertext Markup Language* (*HTML*) â jene Sprache, die regelt, wie Webseiten verfasst sind. Hier wird etwa der Titel einer Seite durch ein sogenanntes *Tag* ausgezeichnet: `<title>Das ist ein Titel</title>`.
FĂŒr die Textinfrastruktur des Lexikons hat sich die Gruppe der Herausgeber:innen auf meinen Vorschlag hin fĂŒr die vergleichsweise simple Auszeichnungssprache *Markdown* eingelassen. Die Syntax dieser Sprache verfolgt das Ziel, nicht nur von Maschinen leicht gelesen werden zu können, sondern auch von Menschen: »Markdown soll so einfach wie möglich zu lesen und zu schreiben sein«, ist in der Dokumentation der Sprache festgehalten ([Gruber 2004](https://daringfireball.net/projects/markdown/syntax#philosophy), meine Ăbersetzung, F.P.). Um dieses Ziel zu erreichen, verwendet die Syntax von Markdown möglichst nur solche Satzzeichen, die so aussehen, wie sie gemeint sind; Sternchen markieren etwa die `*Hervorhebung*` eines Wortes.
Soll ein Text also *plain* bleiben, bedeutet das fĂŒr die Praxis der Textarbeit, dass eine auszeichnende Syntax in den Text eingeflochten werden muss und es sich empfiehlt, eine Software zu verwenden, die diese TĂ€tigkeit unterstĂŒtzt. Diese praktische Anforderung ist keineswegs so simpel wie die Syntax selbst, weil sie Nutzer:innen abverlangt, ungewohnte Entscheidungen zu treffen und alternative Routinen zu finden. Die relative Offenheit von *plain Text* als Standard hat mithin zur Folge, dass er mit einer Vielzahl von Programmen kompatibel ist, was die Situation zugleich erleichtert und erschwert â einerseits steht ein breites Spektrum an Weisen der Bearbeitung zur VerfĂŒgung, andererseits vermehrt das den Bedarf an Entscheidungen sowie die Frequenz von Kontextwechseln.
Es gibt viele mögliche Situationen, in denen sich eine Text-Datei befinden kann. Hier werde ich zwei Positionen besprechen, um einige typische Optionen der Praxis einzusammeln. Zum einen wird jede Text-Datei durch eine oder mehrere Autor:innen erstellt und bearbeitet, zum anderen werden diese Dateien auf der Seite der Herausgeber:innen gesammelt, organisiert und begutachtet. Diese zwei Positionen markieren dann einerseits zwei entscheidende Gruppen von Akteur:innen â Autor:innen und Herausgeber:innen â und andererseits wichtige Momente der Transformation, die eine Text-Datei passieren muss, um ihre Position zu wechseln. Die folgenden Episoden basieren auf meinen teilnehmenden Beobachtungen als Autor:in, Teil der Gruppe der Herausgeber:innen sowie verantwortliche Person fĂŒr die Textinfrastruktur des Lexikons. Diese Rollen ergeben sich nicht zuletzt aus meiner TĂ€tigkeit als Mitglied der Teilprojektvariante INF, welche praxeografisch die Infrastrukturen der Zusammenarbeit am SFB 1567 *Virtuelle Lebenswelten* untersucht (vgl. Mol 2017).
Das Leben eines digitalen Textes beginnt als Datei ohne Inhalt, mit der nichtsdestotrotz erste Formentscheidungen getroffen sind. Eine menschliche Autor:in beginnt Text einzugeben oder aus der Zwischenablage in die Datei zu kopieren, doch abhĂ€ngig von der verwendeten Software Ă€ndert sich nicht nur die Dateiendung (.txt, .md, .docx), sondern auch die Textpraxis. Mit der alternativen Textinfrastruktur des Lexikons war die Hoffnung verbunden, die Autor:innen von Beginn an mit den Praktiken von *plain Text* vertraut zu machen; also mit Markdown-Text-Dateien zu starten und unter den damit gegebenen Bedingungen weiterzuarbeiten. Doch es kommt anders: Eine Person aus dem Kreis der Autor:innen, die ich in ihrem BĂŒro besuche, um gemeinsam vor ihrem Computer ein Interview ĂŒber ihre Textpraktiken zu fĂŒhren, berichtet von ihrer Erfahrung: »Das war mein erster Aufregungspunkt, dass ich jetzt genötigt werde, eine Markdown-Datei zu erstellen, mit der ich sonst noch nie gearbeitet habe und voraussichtlich auch nie wieder arbeiten werde«.
Passend dazu berichten mehrere Autor:innen, dass sie ihre Texte in den ihnen vertrauten Programmen beginnen und entsprechend mit formatiertem Text arbeiten. Sobald der Text eine bestimmte Reife erreicht, ĂŒberfĂŒhren sie ihn in die von der Infrastruktur und den Herausgeber:innen geforderte Plain-Text-Datei. Auch wenn dieser Ăbersetzungsschritt vom Formatierten ins Unformatierte eigene Probleme erzeugt, sind solche Workarounds verstĂ€ndlich, wenn man bedenkt, dass der eine Pfade vertraut und unaufdringlich, der andere unbekannt und aufmerksamkeitsfordernd ist. »Sich ĂŒber die Jahre ĂŒber Word aufzuregen, gehört zum Berufsalltag dazu«, berichtet die Autor:in im Interview, »aber sich ĂŒber andere Sachen auch noch aufzuregen, das habe ich noch nicht intus«. Der Grund ist naheliegend: Es sind Praktiken, »die ich nicht kenne und in die ich mich einarbeiten muss«.
Im Rahmen der Begutachtung dieses Artikels merkt eine auch als Autor:in tĂ€tige Person an, mein Bericht mache nicht deutlich genug, wie sehr die Arbeit mit *plain Text* als ein Umlernen auftritt. »Mir fehlt«, bemĂ€ngelt sie, »dass man sich diese Schreibweise richtig antrainieren muss«. Die Arbeit mit *plain Text* stelle sich ihr als »Lernen eines ganz neuen Schreibens dar«, was sie letztlich davon abgehalten hĂ€tte, weitgehender als nötig mit der alternativen Infrastruktur zu arbeiten. »Die relative Offenheit von *plain Text* \[âŠ] in technischer Hinsicht« bedeute fĂŒr sie »Schwellen, Hindernisse und auch Ausgrenzungen«. SpĂ€testens hier wird deutlich, welche ErschĂŒtterung die EinfĂŒhrung eines (technischen) Standards fĂŒr die damit verbundenen (sozialen) Praktiken bedeuten kann (vgl. Lampland/Star 2009).
Auch an anderen Stellen der Textinfrastruktur laufen alte und neue Praktiken parallel. Einerseits ist ein fĂŒr alle zugĂ€nglicher Ablage- und Austausch-Ordner auf einem von der UniversitĂ€t bereitgestellten Datei-Speicher eingerichtet, andererseits tauschen die Autor:innen Dateien per Email aus. So schickt eine Autor:in den ersten Entwurf des Artikels als Word-Datei im Anhang einer Email an diejenigen, die den Text begutachten sollen. Bemerkenswert ist, dass Letzteres unkommentiert passieren kann, weil es der bekannte, eben selbstverstĂ€ndliche Weg ist. Die alternative Textinfrastruktur des Lexikons sollte es erleichtern, andere Pfad einzuschlagen, erhöht aber eben dadurch zugleich die Notwendigkeit, entgegen praktischer SelbstverstĂ€ndlichkeiten die Art und Weise der Zusammenarbeit koordinieren zu mĂŒssen. In diesem Fall hĂ€tte sich die in der Email versammelte Gruppe aus Autor:innen und Gutachter:innen ĂŒber ein möglicherweise alternatives Verfahren verstĂ€ndigen mĂŒssen, um mit den bestehenden Routinen zu brechen. Stattdessen wird das unausgesprochene Angebot der angehĂ€ngten Word-Datei unkommentiert angenommen, indem diese von einer Gutachter:in â inhaltlich kommentiert â in den Verteiler zurĂŒckgegeben wird.
In den Treffen und Absprachen der Gruppe der Herausgeber:innen ist die Idee einer auf *plain Text* ausgerichteten Textinfrastruktur kaum umstritten. Das konzeptionelle Argument ist, den experimentellen Charakter des Lexikons auf die Herstellungsverfahren auszuweiten. Hinzu kommt das pragmatische Argument, dass eine geplante Online-Variante des Lexikons und die dafĂŒr notwendige Umwandlung in HTML von einfachen Textdateien profitieren wird. Der diskursiven Einigkeit stehen jedoch praktische Workarounds gegenĂŒber. So meiden einige der Herausgeber:innen die vorgeschlagenen Verfahren und weichen auf ihnen bekannte Anwendungen der Textverarbeitung oder Tabellenkalkulation aus. In dem Moment als zur Koordination des Begutachtungsverfahrens eine Inventur der Artikel ansteht, wird deutlich, dass unklar ist, welche Artikel sich in welcher Phase befinden. Diese Unsicherheit ist nicht nur Ergebnis suboptimaler Planung, sondern auch Folge parallellaufender Textinfrastrukturen; etwa einer gemeinsamen Ordner-Struktur einerseits bei gleichzeitigem Dokumenten-Austausch via Email andererseits.
VorlĂ€ufig und zusammenfassend kann ich auf beiden Seiten der Textinfrastruktur drei Typen von Akteur:innen ausmachen. Die *Techniker:innen* stehen dem infrastrukturellen Experiment positiv gegenĂŒber, auch weil sie mit diesen oder Ă€hnlichen Anwendungen mehr oder weniger vertraut sind. Die *Tourist:innen* kennen die alternativen Anwendungen nicht, sind aber interessiert, abenteuerlustig und bereit, einen Umweg zu gehen. Die *Pragmatiker:innen* schlieĂlich tolerieren die alternative Infrastruktur und die Störung ihrer Routinen, meiden sie aber, wo sie andere Möglichkeiten haben.
Diese typologische Skizze vermittelt, welche Mobilisierungen *plain Text* als infrastrukturelle Intervention in Gang setzten kann. Im nĂ€chsten Versuch könnten diese Typen erwartet und produktiv in Beziehung gesetzt werden: Techniker:innen könnten fĂŒr ihrer Mitreisenden sensibilisiert werden, um die eigenen SelbstverstĂ€ndlichkeiten zu relativieren und passende Hilfsangebote zu machen. Es könnten gemeinsame AusflĂŒge in die alternative Infrastruktur organisiert werden, um neue und alte Tourist:innen zu motivieren und das VerstĂ€ndnis fĂŒr die lokalen GebrĂ€uche zu steigern. Und schlieĂlich könnte die alternative Infrastruktur die Praktiken der Pragmatiker:innen ernst und eine entsprechende Offenheit gegenĂŒber den alten Routinen pflegen.
## Text als VirtualitÀt
*Plain Text* fĂŒhrt auĂerdem eine Existenz als virtuelles Objekt. Streng genommen kann *plain Text* ĂŒberhaupt nur virtuell, also auf eine nicht aktualisierte Weise existieren (vgl. Deleuze 1989: 122f.). Denn eine *reine* Sequenz von Zeichen kann niemals auf einem Bildschirm oder einem Blatt Papier erscheinen, ohne zugleich formatiert zu werden. Jeder Text muss eine Form â eine Schriftart, eine Farbe, eine GröĂe â annehmen, um angezeigt oder ausgedruckt werden zu können. Um wahrnehmbar zu sein, muss Text Formatierungen im Sinn der Textverarbeitung durchlaufen, die sich zugleich als Formbildungen in einem medientheoretischen Sinn beschreiben lassen (vgl. Heider 2005; Luhmann 1998). Auf diese Weise kann ich die VirtualitĂ€t von *plain Text* im Folgenden genauer bestimmen.
Ein Angebot zur Beschreibung des VerhĂ€ltnisses von Medium und Form macht Niklas Luhmann; seine Variante der Wahrnehmungstheorie Fritz Heiders versteht Medien als lose Ansammlungen von Elementen, die durch Momente der strikten Kopplung zu konkreten Formen werden (vgl. Luhmann 1998: 198). Das Medium ist hier eine »Offenheit einer Vielzahl möglicher Verbindungen« (Luhmann 1997: 168), wĂ€hrend Formen als das Ergebnis fester Bindungen in diesem Medium auftreten. Greifbar ist dabei nie das pure Medium, sondern sind immer nur die gebildeten Formen: »Man hört nicht die Luft, sondern GerĂ€usche« (Luhmann 1998: 201). Dasselbe gilt fĂŒr *plain Text* â nur formatierter Text lĂ€sst sich anzeigen oder ausdrucken.
Dass Medien in diesem Sinne eine virtuelle Existenz fĂŒhren, hat Annina Klappert (2020) durch eine Verbindung des Medienbegriffs Luhmanns mit der VirtualitĂ€tskonzeption von Gilles Deleuze (vgl. 1989: 121ff.) dargelegt. FĂŒr Letzteren ist das Virtuelle nicht identisch mit dem Möglichen, sondern GegenstĂŒck zum Aktuellen; das Virtuelle »hat sich nicht zu realisieren, sondern zu aktualisieren« (ebd.: 122). WĂ€hrend eine Realisierung von Möglichem also als limitierender Ausschnitt vollzogen wird, geschieht die Aktualisierung von Virtuellem stets als gestaltende Differenz (vgl. Deleuze 1989: 121f.). Dieses VerhĂ€ltnis von VirtualitĂ€t und AktualitĂ€t lĂ€sst sich schlieĂlich auf die Differenz von Medium und Form projizieren (vgl. Klappert 2020: 18-30): Ein Medium ist virtuell, insofern es als Bedingung kontingenter Formbildungen existiert. Formen sind aktuell, insofern sie keine prĂ€realisierten Selektionen, sondern differente Kreationen sind.
Die spezifische VirtualitĂ€t von *plain Text* zeichnet sich nun nicht dadurch aus, ein Reservoir möglicher Schriftzeichen anzubieten, aus dem beliebige Sequenzen kombiniert werden können, und sie spielt sich auch nicht auf der Ebene von Sinn oder Inhalt ab. Die VirtualitĂ€t von *plain Text* besteht darin, Zeichensequenzen *vor jeder Formatierung* bereitzustellen, und damit Bedingungen, um diese Sequenz kontingent zu materialisieren. *Plain Text* ist kein virtueller Inhalt, sondern virtuelle Form. Es ist diese spezifische VirtualitĂ€t von *plain Text*, die ihn fĂŒr die Praxis der Textproduktion so problematisch und praktisch macht, wie oben von mir dokumentiert. *Plain Text* verleiht, so lĂ€sst sich auch sagen, textförmigen Einschreibungen ein besonderes VerhĂ€ltnis von MobilitĂ€t und Modifizierbarkeit (vgl. Latour 1981); unverĂ€nderlich und mobil ist die Zeichensequenz, offen und modifizierbar bleiben die Formen ihrer Materialisierung.
Zeichenketten werden in den Geisteswissenschaften laufend modifiziert; Texte werden entworfen, annotiert, zitiert, korrigiert und redigiert. Gefragt ist deshalb ein Medium, dass diese Modifikationen zwischenzeitlich feststellt und Texte transportfĂ€hig macht. Die aktuell verbreiteten Programme und Dateiformate der Textverarbeitung leisten diesen Transport zum Preis einer Ăberlast â zumindest im Vergleich zu Plain-Text-Daten, die Formatierungen zurĂŒcklassen und dadurch Beweglichkeit gewinnen, insofern die Dateien vergleichsweise klein und dank offener Standards von vielen Programmen lesbar sind. Dennoch hat die gegenwĂ€rtige Praxis andere Standards und Routinen gefunden; vielleicht um durch formale StabilitĂ€t inhaltliche FlexibilitĂ€t zu gewinnen. Damit bleibt aber die Forderung an geisteswissenschaftliche Forschung aktuell, sich die technischen Formen hinter den eigenen Inhalten prĂ€sent zu halten.
Den hier dokumentierten Versuch, dem Textprojekt des Lexikons mittels *plain Text* eine experimentelle Infrastruktur zu empfehlen, verstehe ich als Beitrag zu dieser Forderung. Er steht damit paradigmatisch fĂŒr meine Arbeit in der Teilprojektvariante, die mittels UnterstĂŒtzung und Störung das Ziel verfolgt, Routinen zu reflektieren und zu erneuern. Der Bericht macht schlieĂlich deutlich, dass die Form dieser Reflexion »nicht Besserwissen oder Kritik sein« (Luhmann 1993: 256) kann, sondern ein Versuch, »\[d]asselbe mit anderen Unterscheidungen zu beschreiben und das, was den Einheimischen als notwendig und als natĂŒrlich erscheint, als kontingent und als artifiziell darzustellen« (Luhmann 1993: 256). Eine nachhaltige Erneuerung trĂ€ger Praktiken muss sich an einer *geschickten und kunstvollen Integration* (vgl. Suchman 2002: 9) versuchen, die durch sorgfĂ€ltige Untersuchungen virtueller Forschungsumgebungen und Arbeitsweisen jene Nischen zu finden vermag, in denen neue Technologien und Praktiken florieren.
## Literatur
Deleuze, Gilles (1989): Henri Bergson zur EinfĂŒhrung, Hamburg: Junius.
Gruber, John (2004): Markdown: Syntax. Online unter: https://daringfireball.net/projects/markdown/syntax (letzter Zugriff: 13.05.2024).
Heider, Fritz (2005): Ding und Medium, Berlin: Kadmos.
Klappert, Annina (2020): Sand als metaphorisches Modell fĂŒr VirtualitĂ€t, Berlin/Bosten: De Gruyter.
Lampland, Martha/Star, Susan Leigh (2009): Standards and Their Stories, Ithaca: Cornell University Press.
Latour, Bruno (1986): »Visualisation and Cognition«, in: Henrika Kuklick (Hg.), Knowledge and Society, Greenwich, Connecticut: Jai Press, S. 1-40.
Luhmann, Niklas (1993): »Was ist der Fall? Und was steckt dahinter?«, in: Zeitschrift fĂŒr Soziologie 22, S. 245-260.
Luhmann, Niklas (1997): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Mol, Annemarie (2017): »Krankheit tun«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.): Science and Technology Studies. Berlin: Suhrkamp, S. 407-470.
Rheinberger, Hans-Jörg (2021): Spalt und Fuge, Berlin: Suhrkamp.
Suchman, Lucy (2002): »Located accountabilities in technology production«, in: Scandinavian Journal of Information Systems 14(2), S. 91-105.
The Unicode Consortium (2023): The Unicode Standard, Version 15.0, Mountain View.
Thomas, David/Hunt, Andrew (2020): The Pragmatic Programmer, Boston: Addison-Wesley.
[^1]: Ich nutze in diesem Artikel den englischen Begriff *plain Text*. Ăbliche deutsche Ăbersetzungen sind *einfacher* oder *reiner Text*. Beide Varianten sind bemerkenswert, insofern sie bestimmte Wertkomponenten des Begriffs betonen: WĂ€hrend »plain« mit »einfach« oder »schlicht« ĂŒbersetzt werden kann und damit Bedeutungen wie »kompliziert« und »opulent« gegenĂŒbersteht, transportiert »rein« Bedeutungen von »sauber« und »pur« und steht »durchmischt« und »schmutzig« gegenĂŒber.