# Klappkiste
> [!tip] Referenz
> Von Gerrit van Gelder, Tim KrauĂ, Fabian Pittroff fĂŒr das [Vokabular des Virtuellen](https://doi.org/10.14361/9783839472071-031)
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Die Aufgabe der Klappkiste ist es, Dinge zu transportieren â etwa Kabel, Adapter und kleine GerĂ€te von einem Raum in einen anderen. Im 8. Stockwerk des GB-GebĂ€udes der Ruhr-UniversitĂ€t Bochum befinden sich die BĂŒros vieler Mitglieder des SFB 1567 *Virtuelle Lebenswelten* sowie weitere RĂ€ume, in denen diese zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten. Wenn sich Wissenschaftler:innen hier treffen, brauchen sie hĂ€ufig eine technische Infrastruktur â etwa um Kolleg:innen zuzuschalten, die nicht vor Ort sind, oder um gemeinsam ĂŒber einen groĂen Bildschirm auf Materialien ihrer Forschung zu schauen. DafĂŒr sind Kabel und Adapter notwendig, die persönliche Computer mit der Technik im Raum und dem Internet verbinden. Diese lagern bei Nichtbenutzung im BĂŒro von INF im Raum GB 8\|33. Dort werden sie immer wieder kurzfristig hervorgeholt, um sie in anderen RĂ€umen zum Einsatz zu bringen â hier kommt die Klappkiste ins Spiel. Wer einmal versucht hat, drei Kabel und fĂŒnf Adapter von einem Raum in einen anderen zu tragen, versteht sofort ihren Nutzen.
Versucht man genauer herauszufinden, was die Klappkiste tut und was mit ihr getan wird, steckt man schon mittendrin in den Methoden von INF. Denn hier geht es darum, kleinteilig und ein wenig naiv mitzuverfolgen, was in solchen Situationen passiert, erst recht, wenn es ganz unauffĂ€llig und im Hintergrund ablĂ€uft. Dieses Verfahren der *Praxeografie* wurde von der Anthropologin Annemarie Mol (2017) entwickelt und will nachzeichnen, wie soziale und materielle Welten in und durch Praktiken entstehen und verĂ€ndert werden. Praxeografische Forschung interessiert sich deshalb nicht so sehr fĂŒr fixe Konstruktionen, sondern mehr noch fĂŒr all jene fluiden Prozesse, in denen Menschen, Dinge und andere Wesen in wechselnden Rollen miteinander agieren.
Wenn man mit dieser praxeografischen SensibilitĂ€t an Situationen teilnimmt, erlebt man, wie Kabel an ihrem temporĂ€ren Einsatzort aus der Kiste genommen und sorgfĂ€ltig im Raum verteilt werden, um Dinge und Menschen miteinander zu verbinden. Nicht jedes Kabel passt ĂŒberall, alle haben ihren Platz, der jedes Mal fast wie neu gefunden werden muss. Selten ist die Situation genau wie beim letzten Mal: wechselnde Teilnehmer:innen, verĂ€nderte Tischordnungen, unterschiedliche GerĂ€te, spontane PrĂ€sentationswĂŒnsche, Defekte und Verbindungsprobleme. Alles das geschieht unmittelbar, bevor eine andere Situation beginnt â das Meeting, der Workshop oder der Vortrag, der die Kiste in Bewegung gebracht hat. Sobald die Veranstaltung beginnt, werden die Kabel und die Infrastruktur auf einen Schlag lautlos und unsichtbar; sie verschwinden in den Ritzen des Tisches und tun unbemerkt ihren Dienst â solange, bis dann doch wieder irgendetwas nicht funktioniert. »Hörst du uns? Du warst kurz weg«.
WĂ€hrenddessen wartet die Klappkiste leer und geduldig am Rand des Raumes, bis alles wieder abgesteckt, zusammengerollt und weggebracht wird. Ist die Kiste nicht im Einsatz, ist sie zu einem flachen Objekt zusammengefaltet und kann keine anderen Objekte in sich aufnehmen. Die Klappkiste ist immer noch real, insofern sie weiterhin existiert, aber sie ist nicht als Kiste aktualisiert â sie ist virtuell (vgl. Deleuze 1989). Sobald die eingefaltete, virtuelle Kiste, zu einer aufgefalteten, aktualisierten Kiste wird, besitzt sie auĂerdem die FĂ€higkeit, andere Objekte zu aktualisieren: Wie andere BehĂ€ltnisse â wie Schalen, Körbe oder Beutel â kann auch die Kiste andere Objekte versammeln, verbinden und zu Dingen im Gebrauch machen (vgl. Le Guin 2020). Die Kiste bringt ruhende Objekte in einen aktiven Zusammenhang. Kabel und Adapter, die vielen kleinen BrĂŒcken und Bindeglieder der Infrastruktur, geraten mit Hilfe der Kiste fĂŒr einen Moment ins Zentrum der Aufmerksamkeit, bevor sie sich an ihren vorgesehenen PlĂ€tzen wiederfinden und lautlos zurĂŒckziehen. Bevor Daten durch Kabel gehen können, mĂŒssen Kabel durch die Klappkiste gehen.
## Literatur
Deleuze, Gilles (1989): Henri Bergson zur EinfĂŒhrung, Hamburg: Junius.
Le Guin, Ursula (2020): The Carrier Bag Theory of Fiction: Ignota Books.
Mol, Annemarie (2017): »Krankheit tun«, in: Susanne Bauer/Torsten Heinemann/Thomas Lemke (Hg.): Science and Technology Studies, Berlin: Suhrkamp, S. 407-470.