# Elemente einer Soziologie der Intelligenzen Verfahren der Intelligenz, wie ich sie hier verstehe, sind keineswegs der geisteswissenschaftlichen Forschung vorbehalten. Ich gehe im Gegenteil davon aus, dass es mehr als eine Weise von Intelligenz gibt. So habe ich an anderer Stelle einen Vergleich zwischen Verfahren kĂŒnstlicher und kĂŒnstlerischer Intelligenz angestellt (Pittroff 2024a). Die Gewinnung von Geist aus Daten im Rahmen geisteswissenschaftlicher Arbeit ist also ein Fall neben anderen, dem ich hier allgemeine Überlegungen zu einer Soziologie der Intelligenzen voranstelle, die sich umgekehrt am Fall bewĂ€hren mĂŒssen. Ich starte mit zwei PrĂ€missen, die von den Arbeiten des Wissenschaftsforschers Ludwik Fleck inspiriert sind: Zum einen untersuche ich Intelligenz nicht als individuelle Kompetenz, sondern als kollektives Unterfangen. Diese PrĂ€misse der KollektivitĂ€t korrespondiert mit Flecks Konzept der _Denkkollektive_ (Fleck 1980: 135), wonach „das Denken \[
] eine kollektive TĂ€tigkeit wie der Chorgesang oder das GesprĂ€ch“ (Fleck 1983: 81) sei. Zum anderen arbeite ich unter der Annahme, dass es nicht nur eine, sondern viele Weisen gibt, Intelligenz zu betreiben – sowohl innerhalb der Geisteswissenschaften als auch darĂŒber hinaus. Die PrĂ€misse der MultiplizitĂ€t lĂ€sst sich in Flecks Begriff der _Denkstile_ entdecken, der es möglich macht „VarietĂ€ten miteinander vergleichbar und \[
] Entwicklung erforschbar“ zu machen (Fleck 1980: 129f). In diesem Sinne geht es auch einer Soziologie der Intelligenzen um die Sammlung, Beschreibung und den Vergleich unterschiedlicher Weisen, Intelligenz zu verwirklichen. Der Begriff der MultiplizitĂ€t markiert hierbei im Anschluss an die Anthropologin Annemarie Mol eine endliche Vielheit von Intelligenzen, deren Varianten nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern durch KontinuitĂ€ten verbunden sind (Mol 2002: 84; SĂžrensen/Schank 2017: 418). Neben Ludwik Fleck darf auch der Soziologe Gabriel Tarde als ein Vordenker der Idee multipler und kollektiver Intelligenzen gelten. In seiner Programmschrift _Monadologie und Soziologie_ (2009 \[1893]) argumentiert er, jede Intelligenz sei Ergebnis einer Versammlung intelligenter Elemente (ebd.: 40ff.): Intelligenz sei dementsprechend kein plötzlich auftretendes EmergenzphĂ€nomen, sondern immer schon in den jeweils kleineren Elementen intelligenter Wesen vorhanden. Letztlich, so Tardes radikale These, sei Materie insgesamt aus Intelligenz gemacht (ebd.: 44f.). Daraus folgt eine weitgehende MultiplizitĂ€t von Intelligenz, die nicht auf eine individuell-menschliche Skala beschrĂ€nkt ist, sondern kleinere und grĂ¶ĂŸere ZusammenschlĂŒsse wie biologische Zellen und menschliche Gesellschaften einschließt. Wenn alle intelligenten Wesen als Assoziation kleinerer, ebenfalls intelligenter Wesen zustande kommen, wird zudem eine Untersuchung ihrer KollektivitĂ€t sinnvoll. Die dafĂŒr geeignete Methode sei schließlich eine „allumfassende soziologische Sichtweise“ (ebd.: 59), in der „jedes Ding eine Gesellschaft ist und \[
] alle PhĂ€nomene soziale Tatsachen sind“ (ebd.: 51). So wie die Operationen des Bewusstseins auf den Zellen des Gehirns aufbauten, könnten menschliche Individuen keine Intelligenz betreiben, ohne eine „AnhĂ€ufung von lauter kleinen Ereignissen“, welche das „Erscheinen einer großen wissenschaftlichen Theorie vorbereiten“ (ebd.: 60). Vor dem Hintergrund der KollektivitĂ€t und der MultiplizitĂ€t von Intelligenz mobilisiere ich im Folgenden zwei theoretische Positionen, die Konzepte liefern, die genauer beschreiben lassen, inwiefern Intelligenz kollektiv und multipelist. Zum einen arbeite ich mit Niklas Luhmanns Vorschlag, Intelligenz als _Medium_ zu beschreiben (Luhmann 2017), zum anderen verwende ich John Deweys Begriff der Intelligenz als _Methode_ (Dewey 2001). Diese Kombination erfasst sowohl semantische als auch praktische Aspekte und liefert einen allgemeinen Rahmen zur Beschreibung spezieller Intelligenzen. Der Soziologe Niklas Luhmann macht den Vorschlag, Intelligenz als ein soziales Medium zu beschreiben. Intelligenz ist dabei im Sinn der systemtheoretischen Medien- und Beobachtungstheorie konzipiert. Als soziales Medium bildet Intelligenz ein semantisches Reservoir loser Elemente, die zu konkreten Formen verbunden werden können (Luhmann 1998: 198). Im Fall der Intelligenz, so Luhmanns Vorschlag, ergeben sich die Formen dieses Mediums aus der grundsĂ€tzlichen Möglichkeit, Beobachtungen als Beobachtungen zu beobachten. Das heißt, die Einheit einer beobachtenden Unterscheidung durch eine andere Unterscheidung infrage zu stellen (Luhmann 2017: 36). „Die Paradoxie wĂ€re dann das mediale Substrat, die Unterscheidungen, mit denen sie in feststehende IdentitĂ€ten aufgelöst wird, wĂ€ren die Formen“ (Luhmann 2017: 34). Damit ist jede Form im Medium der Intelligenz die Markierung und Operationalisierung einer Paradoxie – „sie nimmt die Möglichkeit in Anspruch, angesichts aller Unterscheidungen die Frage nach der Einheit der Unterscheidung zu stellen – eine Frage, die nur mithilfe anderer Unterscheidungen beantwortet werden kann“ (Luhmann 2017: 36). Ein Beispiel: Eine Beobachtung mithilfe der Unterscheidung ‚wahr – unwahr‘ stĂ¶ĂŸt auf eine Paradoxie, sobald sie auf sich selbst angewandt wird, wenn also gefragt wird, ob die Unterscheidung ‚wahr – unwahr‘ selbst wahr oder unwahr sei. Entfalten lĂ€sst sich eine Paradoxie dann durch eine andere Unterscheidung: Es kann z. B. gefragt werden, ob die Unterscheidung von wahr/unwahr als solche interessant, effizient, unterhaltsam oder schön ist. Intelligenz, verstanden als Medium, beschreibt somit die Möglichkeit, solche Paradoxien, die notwendigerweise und konstitutiv Teil jeder Beobachtung sind, durch alternative Unterscheidungen zu markieren und neu zu befragen. Mit welchen Formen dies geschieht, ist eine Frage der jeweiligen Intelligenzweise. FĂŒr den Philosophen John Dewey ist Intelligenz eine Frage der Methode (Dewey 2001: 201). Er versteht Intelligenz als eine Reihe gerichteter Operationen, die zum Ziel haben, eine Beziehung zwischen einer Handlung und ihren Folgen zur Erfahrung zu bringen. Von dieser Warte aus ist der Auftrag jeder Intelligenz, aktives Handeln und passives Erleben miteinander zu verbinden. „Erkannte GegenstĂ€nde \[sind] die Konsequenzen zielgerichteter Operationen \[
] – wir können \[
] diesen zielgerichteten Operationen den Namen Intelligenz geben“ (Dewey 2001: 200f.). So lĂ€sst sich Intelligenz mit Dewey als Methode, und Methode als Serie gerichteter Operationen verstehen. „Eine Handlung und ihre Folge mĂŒssen in der Erkenntnis miteinander in Verbindung gebracht werden. Erst durch dieses VerhĂ€ltnis gibt es einen Sinn. Es zu erfassen ist der Gegenstand der Intelligenz“ (Dewey 1988: 57). Intelligenz ist demnach ein gerichtetes Verfahren, das darauf abzielt, ZusammenhĂ€nge zwischen Handeln und Erleben zu provozieren. Ganz im Sinn eines Experiments werden die Dinge der Welt mehr oder weniger kalkuliert angeordnet und in Bewegung gesetzt, um anschließend zu beobachten, was passiert. In Anschluss an Dewey und auf Grundlage einer historischen Untersuchung moderner Intelligenzsemantiken macht die Philosophin Catherine Malabou den Vorschlag, eine Theorie der Intelligenz mĂŒsse vorwiegend in Form einer offenen Frage auftreten (Malabou 2019: 10). Intelligenz in diesem Sinn sei ein Verfahren der Unterbrechung von Routinen, welches das Ziel verfolgt, die MultiplizitĂ€t der Welt prĂ€sent zu halten (Malabou 2019: 108f.). Von Intelligenz könnte nur dann die Rede sein, so auch der Soziologe Dirk Baecker, „wo Perspektiven auf einen Gegenstand als ebenso kontingent wie optional gelten und jeder Umgang mit einem Gegenstand eine FĂ€higkeit zur Variation dieses Umgangs nicht nur voraussetzt, sondern ausbaut und stĂ€rkt“ (Baecker 2019: 40). Die folgende Tabelle gibt einen Überblick ĂŒber die in diesem Teil vorgestellten Elemente und Relationen einer Soziologie der Intelligenzen (Tab. 1). | | Medium | Methode | | ------------- | -------------------------- | ------------------------- | | KollektivitĂ€t | Semantiken | Praktiken | | MultiplizitĂ€t | Alternativunterscheidungen | Handeln-Erleben-Ensambles | *Table 1: Elements and relations of a sociology of intelligences*